Fällt Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte die eigene Vergangenheit auf die Füße oder ist er vorbildlich abwägend?
Andreas Bovenschulte gehört im Einklang mit dem Senat zu den treibenden Kräften in der Frage eines potenziellen AfD-Verbotsverfahrens. Die Bremische Bürgerschaft hatte sich gemeinsam dafür ausgesprochen, auf einen entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht nach der Hochstufung durch den Verfassungsschutz (BfV) zu drängen. Kommt der Entschluss zu spät und hatten wir das nicht schon einmal?
Auch ohne prophetische Visionen ist unschwer vorherzusagen, dass das die AfD-Mitglieder und weitere rechtsradikale Kräfte in diesem Land auf die Barrikaden bringen wird und für weiteren Zulauf sorgen könnte. Ein Risiko, das man lange Zeit auf politischer Ebene nicht eingehen wollte. Bundesweit steht die selbsternannte Alternative für Deutschland inzwischen bei mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen.
Aus Furcht vor Rechts weggeduckt
Seit den wirtschaftlich und Euro-skeptisch orientierten Anfängen mit Bernd Lucke als ehemaligem Initiator der AfD hat sie sich nach diversen Machtwechseln an der Spitze kontinuierlich weiter stramm rechts eingeordnet. Doch spätestens seit der Selbstinszenierung von Björn Höcke in Thüringen war die Entwicklung absehbar. Weiterhin wurde aufgrund der „hohen Hürden“ gezaudert. Dabei stellt sich vielen die Frage: Hat man sich aus Furcht vor Rechts zulange weggeduckt? Hätten die demokratischen Parteien sich nicht weitaus früher konsequent mit allen erdenklichen Mitteln gegen rechtsradikale Tendenzen stellen müssen, bevor die Anhängerschaft derart metastasiert?
Soviel vorweg, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die NPD, gegen die ein solches Verfahren scheiterte, ist nur deshalb nicht verboten worden, weil sie niemals groß genug war. Bewertet wurde die ebenfalls rechtsradikale Partei somit „als nicht bedeutend und gefährdend genug, um den demokratischen Verfassungsstaat anzugreifen.“ Erst weil die AfD inzwischen im Bundesdurchschnitt bei mehr als 20 Prozent steht, könnte ein Verbotsverfahren nun durchsetzbar sein. Das Motto „Wehret den Anfängen“ steht demnach vor der kuriosen Realität, dass das Problem erst groß genug sein muss, bevor wirklich einschneidende Maßnahmen ergriffen werden können. Die Bremer Politik musste bislang exakt das berücksichtigen. Ist das ein systemischer Fehler?
Das Opfer war schlicht chancenlos
Ein Beispiel: Vor rund 12 Jahren wurde der damals 25-jährige Daniel S. am Bahnhof Kirchweyhe von einer Schlägerbande ins Koma geprügelt und getreten. Eigentlich wollte er lediglich schlichtend eingreifen, als eine Gruppe von Jugendlichen aneinander geriet. Seine Zivilcourage wurde ihm zum Verhängnis. Der polizeibekannte Cihan A. hatte derart heftig auf seinen Oberkörper eingetreten, dass Daniel gegen einen Linienbus schleuderte und mit dem Kopf ungebremst auf das Straßenpflaster aufschlug. Er war chancenlos und verstarb vier Tage später in einer Bremer Klinik. Das Mordmotiv: verletzte Ehre.
Tod instrumentalisiert von Neonazis
In Kirchweyhe herrschte Fassungslosigkeit. Auch deshalb, weil unterschiedlichste Neonazi-Gruppen den Fall für ihre Zwecke instrumentalisierten. Rechtskonservative Gruppen und beinharte Neonazis griffen den Tod des jungen Mannes auf, um daraus politisches Kapital zu schlagen und ihrem Hass auf alles Fremde freien Lauf zu lassen. So etwa die „Berliner Burschenschaft Gothia“ oder das neurechtliche Jugendmagazin „Blaue Narzisse“, der Blog „Messerattacken“ und weitere, die sich auf ganzer Linie der NPD (später Die Heimat) befanden und befinden, die übrigens auch den getöteten Daniel S. vor ihren Karren spannte.
Mahnmal für Zivilcourage gefordert
Nicht nur bei der Mutter Ruth S., stattdessen auch bei zahlreichen weiteren meinungsstarken Unterstützern, entstand der Wunsch, ein Mahnmal zu errichten. Es sollte ein Symbol gegen Gewalt und für Zivilcourage sein. Zugleich eines, das verdeutlichen würde, dass auch und gerade Personen, die nicht den geringsten Respekt vor Menschenleben und den Gesetzen dieses Landes zeigen, mit der vollen Härte der Justiz rechnen müssen.
Es wurde kein Mahnmal errichtet. Zwar gab es in Kirchweyhe, in Niedersachsen, Bremen und deutschlandweit zahlreiche Demonstrationen. Die hatten aber längst nicht mehr den vollkommen unschuldig und sinnlos gestorbenen 25-jährigen Daniel im Blick. Und die Begründung zeugte von Angst und eher nicht von Zivilcourage. Auch wurde der Haupttäter Cihan A. nicht wegen Mord oder Totschlag verurteilt.
Die Justiz wurde ausgelacht
Das Landgericht Verden konnte „(…) dem Angeklagten einen Tötungsvorsatz nicht nachweisen.“ Das Urteil lautete schlussendlich: Jugendstrafe von fünf Jahren und neun Monaten. Vollkommen unbesehen eines ethnischen Kontextes, war das keine Strafe, die ähnlich Gesinnte einzuschüchtern imstande wäre. Vielmehr wurde die Justiz – dies ist keine polemische Formulierung, sondern Tatsache – ausgelacht.
Analogie des Zauderns erkennbar
Von 2007 bis 2014 war Dr. Andreas Bovenschulte Erster Gemeinderat und stellvertretender Bürgermeister von Weyhe, von 2014 bis 2019 Bürgermeister als Nachfolger von Frank Lemmermann, bevor Bovenschulte als Oberbürgermeister nach Bremen wechselte. Der Errichtung eines solchen Mahnmals stellte er sich mit dem Argument vehement entgegen, man wolle „(…) Neonazis keine Bühne bieten.“ Also hatte man sich bereits damals geduckt. Ein Geschwür wird nicht aufhören zu wachsen, nur weil man es im wahrsten Sinne des Wortes totschweigt. Insofern scheint die späte Reaktion, das Zögern der Politik, eine Analogie zu den Ereignissen vom März 2013 in Kirchweyhe zu sein.
Signal gegen sinnlose Gewalt
Ein Aussitzen der Situation wird staats- und gesellschaftsfeindliche Strömungen kaum aufhalten. Entsprechende Reaktionen müssen rechtzeitig erfolgen, Maßnahmen frühzeitig ergriffen werden. Die Mutter des getöteten Daniel und viele weitere Befürworter sind noch immer dafür, ein Mahnmal am ehemaligen Tatort, dem Bahnhof von Kirchweyhe zu errichten. Es würde ihn nicht wieder zum Leben erwecken, wäre aber ein starkes Signal gegen sinnfreie Gewalt. Es würde der Mutter ihren Sohn nicht wiedergeben, doch auch 12 Jahre später könnte es verdeutlichen, dass sich keine Bevölkerungsgruppe ihre eigenen Gesetze abseits der Demokratie schmieden darf.
Das Fazit kann nur lauten, dass Andreas Bovenschulte ein wohlabwägender Politiker ist; der im Sinne der Bürger die richtigen Schritte zum ebenso richtigen Zeitpunkt angeht. Dass das System Hürden impliziert, die eine Prophylaxe oftmals erschweren oder gar nicht erst zulassen, ist eine Realität, mit der der Bremer Bürgermeister umzugehen hat. Sein eigenes Wirken macht den Bremer Bürgermeister überaus glaubhaft und sattelfest. Dass der Bremer Senat sich nunmehr für einen Antrag auf ein AfD-Verbot stark macht, ist der zunehmenden Aussicht auf Erfolg geschuldet. Weiterhin fordern viele – wie am gestrigen Sonntag in zahlreichen Städten Deutschlands zu sehen war – Signale frühzeitig zu setzen.
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